Die gotische Ex-Kirche Santa Maria della Misericordia im Stadtteil Cannaregio in Venedig war Teil der Scuola Vecchia della Misericordia.

In diesen Winkel von Venedig, genauer gesagt, diesen abgelegenen Teil im Sestiere (Stadtviertel) von Cannaregio haben wir zweimal besucht. In diesen vier Wochen waren manche Doppelbesuche gewollt, andere haben sich eben so auf dem Weg ergeben. Gewollt war der erste Besuch der Scuola Grande della Misericordia. Als Tageshauptziel stand an diesem Tag die Laguneninsel Burano auf dem Zettel. Früh ging es mit dem Vaporetto eine Stunde durch die Lagune um anschließend die bunten Häuser in den kleinen Gassen von Burano zu bewundern. Mehr wollte uns die Insel aber nicht zeigen – das Museum war geschlossen, in der Kirche war Fotografierverbot – also ging es wieder zurück zum Fondamente Nove, dem Drehkreuz vieler Vaporetti-Linien.

Dann erkunden wir eben diesen nördlichen Teil von Cannaregio. Die Stadtviertel werden in Venedig auch Sestiere genannt – sechs Stadtviertel sind es, ein Stadtviertel ergibt ein Sechstel der Stadt. Ziel des Besichtigungsnachmittags war die Kirche Madonna dell‘ Orto, bekannt durch bedeutende Werke des berühmten Malers Jacopo Tintoretto. Auf dem Weg vom Fondamente Nove gab es noch im Ex-Conventi dei Gesuiti eine Kaffeepause. In diesem ehemaligen Kloster ist heute ein Hostel, und direkt über dem Kanal gab es eine Terrasse eines Cafès. Ausgeruht ging unsere Tour dann weiter – kommt mit zu

meiner Besichtigung der ehemaligen Kirche Santa Maria della Misericordia in Venedig

bei der ich an diesem Tag geschlossene Türen vorfand. Das ist ja mal ein guter Lauf – auch bei der zum ehemaligen Kloster gehörenden Kirche Santa Maria Assunta Gesuiti, blieben die Kirchentüren zu. Okay, wäre schön gewesen, war mein Gedanke – dann eben nicht. Ich hab immer noch den entsetzten Satz meines Mannes im Ohr, als wir in Prag auf Kirchentour waren, und ich so beiläufig erwähnte, dass es gut über 60 Kirchen in der Stadt gibt: „Die willst du jetzt aber nicht alle besichtigen?“ 😳 Ich hab ihm in Venedig tunlichst verschwiegen, dass es hier mal so locker das dreifache an Kirchen gibt 😀 😀 

Zufällig waren wir einige Tage später nochmal in dem Viertel, und juchuuuuu – die Kirchentüren waren geöffnet. Aber der Reihe nach, jetzt gibt es erstmal

die Außenansicht der Ex-Chiesa Santa Maria della Misericordia in Venedig

und die hebt sich von dem nebenstehenden Backsteingebäude hell ab.

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Rechts und links dem Eingang stehen Statuen, die die Beständigkeit und Barmherzigkeit symbolisieren. Im farbigen Rundfenster wurde der Gönner der Kirche, Gasparo Moro, mit einer Büste geehrt. Der Blick ganz rechts geht zu einem Relief aus dem 13. Jahrhundert, das die Mutter Gottes mit dem Kind zeigt.

Beide Gebäude scheinen wie aneinandergeklebt. Dass sie tatsächlich zusammengehören, zeigt

ein bisschen Baugeschichte zur Ex-Kirche Santa Maria della Misericordia in Venedig

Wie ihr in meinem Beitrag zum Canale di Cannaregio bestimmt gelesen habt, setzt sich dieser Stadtteil aus 33 kleine Inselchen zusammen. Dieses kleine Inselchen hieß damals die Insel Valverde und auf ihr wurde so um 939 das vermutlich älteste Hospiz der Stadt errichtet. Aber nicht nur das, auch eine kleine Kirche fand auf der Insel ihren Platz und wurde gemäß ihrem Standort Kirche Santa Maria della Valverde, Madre di Misericordia, genannt. Die Kirche am Campo dell‘ Abazia wird umgangssprachlich auch nur nach dem Campo benannt.

Wie es mit der kleinen Kirche weiterging, darüber hüllt sich der Nebel des Schweigens. Erst 1310 wird erwähnt, dass durch eine Erbschaft des Priors der Kirche der Bau des nebenstehenden Gebäudes möglich wurde. Hier gründete sich 1308 die Bruderschaft in der Scuola Vecchia della Misericordia. Mehrfach soll die kleine Kirche umgebaut worden sein. Auch einen neuen Namen erhielt sie mit Bau der Scuola. Als Mitte des 14. Jahrhunderts auch die Pest nicht an den Mönchen vorbeiging, sie verstarben alle, ging die Schirmherrschaft an die Familie Moro. Genau jener, der von der Fassade auf die Besucher blickt. Die Fassade der Kirche erhielt im 17. Jahrhundert eine Erneuerung.

Keine Erneuerung gab es jedoch als Napoleon auch in Venedig das Sagen hatte. Da gibt es noch mehr solcher ‚Stinkstiefel‘ in der Geschichte, die Kirchen und Klöster aufgelöst haben. In Prag ist mir da schon Joseph II. negativ aufgefallen, in Venedig wurden 1806 rund 60 Klöster und 24 Kirchen aufgelöst, 70 wurden abgerissen. Dass bei solchen Aktionen unschätzbare Kunstschätze verloren gingen ist klar. Ach ja, ein Württemberger in meinem Heimatland darf sich da auch mit einreihen. Das was er brauchen konnte, holte er aus der kleinen Michaelskirche raus, der Rest wurde verbrannt. Ernten bei mir alle nur ein unverständiges Kopfschütteln.

Die kleine Kirche neben der Scuola entging aber dieser Vernichtungsaktion. 1828 übernahm der Abt Pianton die Kirche in einem erbärmlichen Zustand, konnte aber einen Teil retten und sanieren. Ab da beginnt für die Kirche mein ‚Ringlein-Spiel‘ – ja, auch Kirchen wandern von einer Hand in die andere. Ein Patriarch kaufte 1844 das Gotteshaus, weil er damit verhindert wollte, dass aus katholisch evangelisch wird. 1864 kam die Kirche in einen Familienbesitz, die Kunstwerke der Kirche wurden verteilt. 1868 schlug dann das letzte Stündlein als Kirche – vorerst. Sie durfte als Kirche wieder aufblühen, bis ihr dann am 17. August 1967 endgültig das Leben ausgehaucht wurde.

Heute wird sie als Veranstaltungsort genutzt, was wir bei unserem zweiten Besuchstag erleben konnten. Die Biennale fand zu dieser Zeit in Venedig statt, und die Kirche wurde für eine Veranstaltung genutzt.

Mich kann man mieten und kaufen! Bei meinen Recherchen zum Bericht konnte ich im Internet finden, dass ein Käufer für das Kirchengebäude gesucht wird. Wenn es etwas weniger kostspielig sein kann (aber bestimmt noch teuer genug), dann kann man die Ex-Kirche für eine Veranstaltung auch mieten. Bastian Schweinsteiger hat sie als romantische Kulisse für seine Hochzeit genommen (Bilder findet ihr im Internet) – aber genauso war sie Kulisse für Filme.

Offenen Kirchentüren kann ich nie widerstehen, ein Blick muss einfach sein.

Die Innenbesichtigung der Ex-Kirche Santa Maria della Misericordia in Venedig

war gewöhnungsbedürftig. Im ersten Moment hat die Atmosphäre schon am Eingang sehr intim angemutet – Gruppenkuscheln hinter einem Vorhang??

„When the Body says Yes“ – das war der Titel dieser Biennale Veranstaltung.

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„When the Body says Yes“ von Melanie Bonajo in der Ex-Chiesa Santa Maria della Misericordia in Venedig

dieser Videoinstallation konnte man in der Kirche in kuscheliger Runde auf Sitzsäcken folgen.

Melanie Bonajo, eine niederländische Künstlerin, Filmemacherin und somatischer Sexcoach und -pädagogin hat das Video für die Biennale Art 2022 erstellt. Wollt ihr mehr darüber erfahren, dann klickt einfach HIER.

Der Eintritt in diese Veranstaltung war frei, einzige Bedingung um hinter die Fadenvorhänge zu kommen war – Schuhe aus!
Vollbepackt wie ich bei meinen Sightseeings bin kam das einer ‚Flughafenkontrolle‘ gleich, die wir z.B. im Dogenpalast oder in verschiedenen Museen und Sehenswürdigkeiten erleben. Wir waren dieses Procedere bereits von Florenz gewohnt. Da ich aber ohne Handtasche und Rucksack unterwegs bin und alles an ‚der Frau‘ trage, ist allein schon Schuhe ausziehen ein Act für sich. Nein, nicht das ausziehen 😀 😀 – schon eher das wieder anziehen 😉

Deshalb gibt es nur einen Blick aufs Ganze. Ich vermeide wie immer schmückendes Beiwerk in Form von Menschen auf meinen Fotos. Ein bisschen sieht man noch die Ausgestaltung der ehemaligen Kirche.

Auf dem Campo dell‘ Abazia in Venedig

hat man das Gefühl, man ist allein in Venedig. In der Stadt, die von Millionen von Menschen besucht wird, die es aber hauptsächlich an die Highlights der Stadt zieht. Wir haben uns bei unseren Städtereisen angewöhnt, dass wir auch in die abgelegensten Winkel einer Stadt gehen – hier findet noch das authentische Leben statt, oder wie hier – gar nichts. Ich liebe solche Flecken, ihr werdet noch vielen anderen abgelegenen Winkel in meinen Berichten begegnen. Der Brunnen aus dem 15. Jahrhundert, der Blickfang des kleinen Platzes.

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Das Gebäude links neben der Kirche verdient auch noch ein bissle Beachtung –

die Scuola Vecchia della Misericordia in Venedig

die alte Schule der Bruderschaft. In Venedig bedeutet in diesem Zusammen Scuola nicht Schule, sondern das Gebäude einer Bruderschaft.

Die Scuole in Vendig

sind geistliche, karitative Zusammenschlüsse von Bruderschaften. Auch Zünfte, Gilden oder auswärtige Landsmannschaften schlossen sich in dieser Vereinigung zusammen. Man durfte auch da zwischen Einflussreichen und Vermögenden und zwischen den einfachen Händlern und Handwerker unterscheiden. Die Scuole grandi, es gibt heute noch sechs in Venedig die zu besichtigen sind, zeigen überdeutlich diesen Reichtum. 1501 gab es insgesamt so rund 210 große und kleine Scuole, dem aber Napoleon mit seinem Erlass zur Auflösung ein Ende setzte.

Man kann sich die Organisation einer Scuola ähnlich der einer politischen Organisation vorstellen. Es gab eine Generalversammlung, in der die Vorstände meist auf ein Jahr gewählt wurden. Dann gab es Beiräte, die deren Aufgaben zu überwachen hatten – und viele andere, die die Arbeiten dieser Vereinigungen zu erledigen hatten. Wer über Vermögen verfügte, der zeigte sich großzügig in der Finanzierung der Bauten, oder der Innenausstattung mit Kunstwerken. Eine wunderschöne, ich finde sie die prachtvollste, Scuola ist die Scuola Grande di San Rocco, die man für eine kleine Eintrittsgebühr besichtigen kann.

Hab ich was, dann zeig ich das auch – so war das Ansinnen der Mitglieder einer Scuola. Ganz klar haben sie sich auch karitativen Aufgaben gewidmet, aber Repräsentation und die Darstellung ihrer Pracht stand dem in Nichts nach. Damit man die Mitglieder gleich erkannte, hatte sie eine einheitliche Tracht. Man kann sich jetzt lebhaft vorstellen, dass die sechs großen Scuolen sich bei ihrer Präsentation übertreffen wollten: noch schöner, noch größer, noch prachtvoller.

Dagegen wirkt die alte Scuola hier fast armselig. Vielleicht entsprach aber gerade das dem Grundsatz der Bruderschaft, in ihrem Gebäude ein Hospiz für die Armen zu unterhalten.

Ende des 16. Jahrhunderts war es ausschließlich nur noch ein Hospiz, bevor es dann auch 1643 in den Besitz der Zunft der Seidenweber kam.

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Die Bruderschaft beschloss 1497 einen neuen Hauptsitz zu bauen, und in einer Prozession brachte die Scuola 1589 ihre Schätze über die Brücke zu ihrem neuen Hauptdomizil.

Die Scuola Grande della Misericordia in Venedig

Das könnt ihr euch in einem anderen Beitrag genauer anschauen. Auch hier fand eine Biennale Ausstellung in beiden Stockwerken statt.

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